Loriots Sketche legen das Triebhafte unter konservativen Oberflächen frei. Sobald der Protestantismus erotisch überwunden werden soll, bricht das Chaos aus. Nun sind seine Trickfilme im Kino zu sehen.
Paul Jandl
Es sind nur zwei Filmsekunden, aber für die Fans der Moral bedeuten sie eine Ewigkeit: Brüste bei Loriot! Und auch nicht irgendwelche Brüste. Mit einem Ruck reisst das Mainzelmännchen seine Jacke hoch und zeigt, was es hat. Die Piefigkeit des deutschen Fernsehmaskottchens steht in diesem Zeichentrickfilm des Jahres 1972 ziemlich nackt da. Loriot, der Mann mit dem Einstecktuch, hat wieder einmal ausgeteilt.
Könnte man so etwas heute noch im Fernsehen zeigen? Nein, man könnte nicht. Aber im Kino schon. In Deutschland läuft gerade «Loriots grosse Trickfilmrevue» (von einem Filmstart in der Schweiz ist noch nichts bekannt). Ein Zusammenschnitt dessen, was der Komödiant zeichnerisch in bewegten Bildern verarbeitet hat. Die Kinosäle sind voll mit popcornfreiem Publikum jenseits der siebzig, das die entscheidenden Zeilen mitmurmelt: «Die Ente bleibt draussen!» oder «Gott, was sind Männer primitiv!» Sind das Klassentreffen des guten alten BRD-Humors mit lauter Senioren? Ist wenigstens das Werk Loriots bissfest geblieben? Die Trickfilme vielleicht noch am wenigsten, aber der Rest! Wenn man über die Modernität dessen reden will, was der Philosoph Odo Marquard einmal «die eiserne Schmunzelration» der Deutschen genannt hat, muss es unbedingt um Sex gehen.
Die Tücken geschlechtlicher Exposition verschärfen sich, wenn die Deutschen besonders deutsch sind. Alle Versuche, den Protestantismus erotisch zu überwinden, enden im Chaos oder auf brettharten Worten wie «Auslegeware». In Loriots Kurzkomödie «Liebe im Büro» bittet der Chef der Vereinigten Europa-Trikotagen GmbH das Sekretariatsfräulein Dinkel in sein Büro. Fräulein Dinkels fünfzehnjährige Firmenzugehörigkeit ist zu feiern. Zwischen Schreibtisch und anderem Mobiliar entwickelt sich ein Tête-à-Tête, bei dem der Satz gehaucht wird «Sie machen mich ganz verrückt, Herr Meltzer». Es gibt auch das zeitlos schöne «Ha! Sie blasen mir ins Ohr!». Unter Gebrauch der Vornamen Karl-Heinz und Renate scheint man dem Ziel näher zu kommen, aber noch sind Brillen im Weg.
Der Kippmechanismus des Bürostuhls befördert Fräulein Dinkel in eine groteske Schräglage, dann klingelt das Telefon. Herr Kröger von der IFAG Mannheim möchte wissen, was mit dem Auftrag über «vierhundert Arosa schlitzverstärkt mit kurzem Arm» ist. Die schriftliche Bestellung findet sich unterm Schreibtisch auf der Auslegeware. So tief ist das Paar in seinen ungelenken Umarmungen schon gesunken, aber der bürokratische Fehler lässt Herrn Direktor Meltzer wieder hochschnellen. «Als führendes Unternehmen der Trikotagenbranche können wir uns Unkorrektheiten dieser Art nicht leisten!» In der Causa Meltzer und Dinkel gibt es kein Happy End: «Sagen Sie nicht Karl-Heinz zu mir!»
Komödiantische Fallhöhen
Der Sketch hat so ziemlich alles, was bei Loriot wichtig ist. Den Fleiss mittelständischer Unternehmen und die ihm unterlegte Moral. Formen und Normen. Der eruptive Ausbruch des Persönlichen stürzt die Menschen in Abgründe des Ungewissen. Loriots Figuren verfügen, um es mit Pierre Bourdieu zu sagen, «über eine praktische Kenntnis der klassenspezifischen Verbreitung einer bestimmten Praxis», privat aber sind sie allesamt Trottel.
Als Aristokrat hat Vicco von Bülow alias Loriot eine Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik geschrieben, die den Aufstiegswillen ebenso dokumentiert wie die langsame Auflösung der Geschlechter- und Klassenschranken. Was gestern noch gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Wer sich am Geländer der Vergangenheit festhalten möchte, kann tief fallen. Die Filme «Ödipussi» und «Pappa ante Portas» sind unter ihren stockkonservativen Oberflächen geradezu anarchisch modern. Sie desavouieren die Praxis der Formen, weil sie einen himmelstürzenden Pragmatismus einfordern. Nicht ohne Grund kommt das eine als Matriarchatskomödie daher. Das andere ist eine Komödie des Patriarchats. In «Pappa ante Portas» tut Herr Lohse, von der Deutschen Röhren AG ins Pensionistenprivatleben verscheucht, was er als bisheriger Einkaufsdirektor zu können meint: Er kauft ein. Dass seine Familie keine Röhren AG ist und unter Tonnen von rabattfähigen Senfgläsern und Badezusätzen einzubrechen droht, muss Herr Lohse erst lernen. Seine Frau, im Film gespielt von Evelyn Hamann, wird ihm zeigen, wie das geht.
In «Ödipussi» ist Loriot als längst erwachsener Paul Winkelmann von seiner Mutter zu trennen. Wieder greift Evelyn Hamann in den Emanzipationsprozess ein. Als Dr. Margarethe Tietze schreitet sie zur Tat. Sie entreisst den Innenausstattungsunternehmer in fünfter Generation einem matriarchalen Schlachtross, das nicht umsonst so freudianisch aufgeladen ist. «Pussi!», ruft Frau Winkelmann ihren Sohn, und Loriot hat wieder einmal seinen Spass mit Freud. Weil der Phallus trennt, was er eigentlich verbinden soll, winkt Vicco von Bülow allenthalben mit sublimem Ersatz. Beim ersten, körperlich folgenlosen Rendez-vous schiebt Paul Winkelmann einen Hefezopf ins Backrohr. Der Süsswarenhersteller Drögel von der Firma Drögel-Riegel versucht im Film «Pappa ante Portas» Herrn Lohses Frau mit seinen Riegeln zu beeindrucken. Die bürgerliche Ehe vermag er damit nicht zu kippen. «Sie haben Ihre Riegel, Herr Drögel. Ich brauche mein Zuhause», lautet der klassische Anti-Ehebruch-Satz.
Im Sketch «Kosakenzipfel» ist es ein phallusförmiges Dessert, über dem die Freundschaft zweier Paare zerbricht. Und dann ist da noch die Geschichte mit der Nudel, dem deutschesten aller einschlägigen Symbole. Beim Liebesbekenntnis klebt es an der Nase des Liebenden, der gerade den Satz sagt: «Es ist vielleicht noch sehr zart... aber es kann grösser werden, es kann wachsen.» Das ist eher untere Loriot-Schublade. «Hildegard! Bitte sagen Sie jetzt nichts!» Komödiantische Fallhöhen konstruieren sich im zwischenmenschlichen Ernstfall fast wie von selbst. Im Film «Ödipussi» ist Evelyn Hamann gerade dabei, poetische Metaphern für ihr Verhältnis zu Paul zu finden, als ein Hund auf den Vorderbeinen vorbeiläuft und den beiden sein Hinterteil entgegenhält. Perfektes Timing.
Die genderfluide Dicki Hoppenstedt
Nähert sich das Zwischenmenschliche einem Höhepunkt, beginnt es bei Loriot auch schon wieder zu zerfliessen. Das harte Pathos wird durch Ambivalenzen und fluide Zustände konterkariert. Bis ins Körperliche hinein. Ein gewisser Professor Häubl, Spezialist für pneumatische Plastologie, hat ein Verfahren entwickelt, die eigenen Körperteile durch reine Willensanstrengung zu vergrössern. Loriot belässt es in seinem Trickfilm bei relativ Unverfänglichem wie einem Zeigefinger und einem Ohr.
Professor Mutzenberger wiederum ist es gelungen, den Frauenüberschuss der Bundesrepublik in den Griff zu bekommen, indem er einen gleichzeitigen Mangel an deutschen Kaninchen behebt. Er kann Frauen in Kaninchen verwandeln. Im Trickfilm-Fernsehstudio führt er ein Prachtexemplar seiner einschlägigen Experimente vor. Die Lebensgefährtin des Aufsichtsratsvorsitzenden der Duisburger Rohrstahl AG wurde zur Zufriedenheit aller ebenfalls zum Kaninchen gemacht.
Lachen hier nur die alten Herren? Offenbar nicht nur die. Unter dem Loriot-Zitat «Männer sind... Und Frauen auch... Überleg dir das mal!» hat eine Studie aus dem Jahr 2016 nachzuweisen versucht, dass die Geschlechterbilder des Humoristen keineswegs heteronormativ sind. Loriots Figuren schimmern laut der wissenschaftlichen Arbeit von Michel op den Platz im Gegenlicht einer heraufziehenden Zeit. Galionsfigur dieser Theorie des Genderfluiden: Dicki Hoppenstedt. Im Sketch «Spielwaren» betritt Opa Hoppenstedt einen Laden, um ein Geschenk für seinen Enkel zu kaufen, dessen Geschlecht er vergessen hat und auch nicht näher definieren kann. So rein optisch. In dieser Zwangslage entscheidet er sich für ein angemessen neutrales Spielzeug: ein Miniatur-Atomkraftwerk, das auf nahezu realistische Weise explodieren kann. Die mitgelieferten kleinen Kühe fallen dann um.
Wer Loriot queer lesen will, der sieht das Queere überall. Bei Loriot tänzeln Cowboys händchenhaltend durch die Prärie, Männer erklären einander auf Loriots grünem Sofa die Liebe oder sitzen gemeinsam nackt in der Badewanne. Warum tun sie das? Vielleicht ja wirklich nur, weil sie sich im Zimmer geirrt haben. Das Schöne an Loriots Realität: ihre phantastische Unwirklichkeit. Und die Utopie, dass das schlitzverstärkte Hefezopfdeutschland eines Tages durch Liebe überwunden werden kann. Dann werden die Karl-Heinze andere sein, die Dr.Tietzes und die Mainzelmännchen auch.
Passend zum Artikel
Andreas Scheiner
Reinhard Mohr